Ich grübele seit über einer Woche nach. In dieser Zeit entstanden ein erster Entwurf meiner Hahnengeschichte und eine Menge loser Gedanken, die ich anlässlich der aktuellen Ausgabe der ZEIT ordnen möchte.

Ich möchte nicht wüten, nicht schimpfen, nicht zurück schießen. Ich möchte verstehen.

Welchen Ansatz soll ich wählen? Wie viel Wut ist dem Thema angemessen? Wie viel Ökonomie steckt da eigentlich drin?

Es begann mit dem ZEIT-Artikel Wer anprangert, muss auch einordnen.

Die US-Filmproduzentin Jill Messick und der schwedische Theaterregisseur Benny Fredriksson haben sich umgebracht. Sind sie Opfer der #MeToo-Debatte geworden?

Das fragt der Artikel und stellt die Verantwortung der Medien, Grautöne zuzulassen, überhaupt aufzuzeigen, heraus. Selten sind Debatten schwarz und weiß. Soziale Medien verstärken den Schwarz-Weiß-Effekt aber, weil Diskussionen unglaublich schnell und laut geführt werden. Kritik an hemmungslosem Liken, ohne den gelikten Artikel überhaupt gelesen zu haben: Die Argumente kamen bereits zu Beginn meines Studiums 2007 auf. In genanntem Artikel geht es aber auch um den Umgang der traditionellen mit den neuen Medien. Je länger ich darüber nachdenke, desto komplexer wird das Thema für mich.

Die Diskussionsstruktur in sozialen Medien

Mir selbst habe ich verordnet, diesem Trend der schnellen Likes nicht zu folgen. Nicht immer gelingt es mir. Einen Artikel rein wegen der Überschrift zu verbreiten – das ist gefährlich. Weiß ich doch nicht, wie viel Ironie da beispielsweise drin steckt. Menschen verbinden mit einem Thema das, was sie betrifft. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn ich mich nur auf die Überschrift konzentriere. So hätte auch Jens Jessens Beitrag Der bedrohte Mann in der aktuellen Ausgabe der ZEIT eine Persiflage sein können. Der ZEIT hätte ich das zugetraut. Ich weiß jetzt, dass es keine Persiflage ist, weil ich den Artikel gelesen habe. Vorher aber konnte und wollte ich mir kein Urteil erlauben.

[In der gedruckten Ausgabe läuft der Artikel unter dem Titelthema „Schäm dich, Mann!“ Online ist der Text mit Digital-Zugang verfügbar.]

Eine der ersten Lehren meines geisteswissenschaftlichen Studiums war: keine Diskussion ohne Begriffsdefinition. Diesen Grundsatz hebeln soziale Medien aus. Ein Hashtag wie #MeToo verbreitet sich, jeder sagt etwas dazu, und zwar vor dem Hintergrund dessen, was er oder sie damit verbindet. Was genau diese Verbindung ist, das wird nicht gesagt. Dafür ist kein Platz.

Diese Verbindung herauszustellen bedarf außerdem Zeit. Zeit, die im konstanten Gezwitscher häufig nicht da ist. Man will schließlich nicht übersehen werden.

#MeToo und die Wut

Am folgenden Tag schaute ich mir zwei Videos an. Carolin Kebekus sagt sehr deutlich:

Es geht hier ja nicht um Komplimente, sondern um Machtmissbrauch.

In einem Beitrag des Neo Magazin Royale zur Berlinale 2018 wird das oft gehörte „Ich bin ja kein Sexist“ auf wunderbare Weise ad absurdum geführt.

Einige Aussagen der interviewten Männer machten mich wütend. Ein Beispiel:

Ich meine, wenn man dreißig Jahre braucht, um sich zu erinnern, da mal sexuell belästigt worden zu sein, finde ich das schon ein bisschen merkwürdig.

Ich weiß nicht, wer der Mann ist, der diese Aussage getroffen hat. Er steht für mich exemplarisch für eine Haltung, die der gesamte Beitrag zeigt. Nun könnte ich an dieser Stelle eine hochemotionale, weil wütende und persönlich betroffene Replik auf diesen Satz schreiben. Anhand der Entwicklung der letzten sechs Monate weiß ich, dass genau das häufig passiert. 140 Zeichen, die diesen Menschen als intoleranten, unverständigen und rückschrittigen weißen Mann bezeichnen würden, um dann auf alle Männer als intolerant, unverständig und rückschrittig zu schließen, wären die Folge. Damit erreiche ich aber das Gegenteil von dem, wofür #MeToo für mich steht.

Denn nein, nicht alle Männer sind so. Nein, Männer sind nicht per se schlechte Menschen. Nein, #MeToo sollte aus meiner Sicht nicht dazu führen, alle Angehörigen des anderen Geschlechts unter Generalverdacht zu stellen.

Begriffsdefinition als Grundlage der Diskussion

An dieser Stelle ist es angebracht, zu verdeutlichen, was ich mit #MeToo verbinde. Unsere Gesellschaft und Sprache sind vielfach patriarchisch geprägt. Dafür ist niemand heute verantwortlich, das ist Fakt. Im Sinne des ökonomischen Gedankens von sunk costs bin ich entsprechend der Meinung, dass eine Diskussion, die rein nach den Gründen patriarchischer Denkmuster sucht, nicht zielführend ist. Der Umstand ist erst einmal da; und dass diese Denkmuster existieren, kann zu Machtmissbrauch führen. Und führt zu Machtmissbrauch. Weil wir nun von patriarchischen Denkmustern reden, geht es um Machtmissbrauch von Männern gegenüber Frauen. Unbesehen, dass Missbrauch in jede Richtung existiert. An der Stelle von Machtmissbrauch setzt #MeToo für mich an: diejenigen Denkmuster, die zu einem solchen Missbrauch und in extremster Form zu Gewalt führen, aufzudecken, aufzubrechen und zu verändern. Das sind Denkmuster, die nicht nur Täter hervorbringen, sondern auch zum Wegschauen veranlassen.

Dass ich an einem bestimmten Tag in einem bestimmten Club vor einer bestimmten Anzahl von Jahren von einem bestimmten Mann sexuell belästigt wurde, das ist ein Symptom. Die Ursache, aus der dieses Symptom hervorgeht, ist das, was #MeToo aus meiner Sicht verändern kann. Arbeite ich an der Ursache, dann können auch die Symptome verschwinden. Denn ja: Ich wurde nicht nur einmal von einem Mann vor einer Anzahl von Jahren sexuell belästigt. Für mich ist das bis heute Alltag, so wie für viele andere Frauen auch.

[Kurzer Zwischenruf: Ja, Sexismus existiert auf beiden Seiten. Ja, auch Männer werden sexuell belästigt. Im Fall von #MeToo geht es zunächst um Frauen. Wir sollten deshalb aber nicht den Fehler machen, den Sexismus in die andere Richtung zu verstärken. Beiträge, wie der von Jens Jessen tragen leider genau dazu bei.]

Extreme vereinfachen und verfälschen

Die definitorische Unschärfe der Diskussion führt aus meiner Sicht zu zwei Phänomenen:

Zum einen wird die #MeToo-Debatte auf verschiedenen Ebenen geführt. Sexismus, sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt hängen zusammen, das zeigen schon die Begrifflichkeiten. Es bestehen auch Parallelen, da die zugrundeliegenden Denkmuster die gleichen sind. Dennoch verschwimmen die Argumente aus meiner Sicht. Dann heißt es, Sexismus dürfe man nicht mit sexueller Gewalt gleich setzen. Das Eine sei Gesellschaft, das Andere ein Verbrechen. Es sind aber doch nur unterschiedliche starke Ausprägungen desselben Phänomens (Machtmissbrauch aufgrund einer wahrgenommenen Überlegenheit). Der Fehler liegt dann nicht darin, die drei Themen unter #MeToo zusammenzufassen. Der Fehler liegt darin, nicht konkret zu benennen, auf welcher Ebene der Diskussion ich mich gerade befinde. Und zwar auf beiden Seiten des Diskutierenden.

Zum anderen werden extreme Meinungen mit dem Hang zu Verallgemeinerung hervorgebracht; die zu Trotzreaktionen der dann zu Unrecht Beschuldigten führen. Jede Bewegung bringt ihre Extreme hervor, denn es gibt immer jemanden, der etwas mehr an die Sache glaubt, als der Rest. Da sind wir beim Schwarz und Weiß und den fehlenden Grautönen.

Genau hier komme ich dann in eine Zwickmühle, um mal Herrn Jessens Metapher zu bemühen. Auch ich sehe in Einzelaussagen, die sich häufen, eine Haltung, die eben nicht nur auf Einzelne zu reduzieren ist. Ich sehe diese Haltung, weil ich Sexismus und sexuelle Belästigung sehr häufig erlebe und auch sexuelle Gewalt erlebt habe. Allerdings unterstelle ich deswegen nicht, dass jeder Mann diese Haltung hat. Und zwar egal, auf welcher Ebene der Debatte ich mich befinde.

Auge um Auge? Und noch ein Auge um noch ein Auge? Dann werden wir alle blind*

Das, was also der #MeToo-Bewegung vorgeworfen wird: Verallgemeinerung, Schlechtmachen aller Männer, Verunsicherung Unschuldiger, Generalschuld, genau das passiert gerade genau umgekehrt. In diesem Sinne kann ich Jens Jessen dankbar sein. Er demonstriert mit seinem Wutausbruch exakt das, was er der #MeToo-Bewegung vorwirft. Und zeigt damit, dass er das Hinwirken auf gesellschaftliche Veränderung genauso wenig verstanden hat wie diejenigen, die #MeToo als Plattform nutzen, jeden Mann zu diffamieren.

Indem Jens Jessen sich auf die extremen Auswüchse von #MeToo konzentriert (Zerstörung von Kunst, Generalschuld, Abblocken von Diskussion – „Du als Mann bist Teil des Problems, deswegen darfst du nicht mitreden.“), stilisiert er die Bewegung zu einer Debatte von extremen Ansichten. Er pickt sich Einzelmeinungen heraus und benennt diese als das Allgemeine. Für ihn steht #MeToo deswegen für totalitären Feminismus.

Und damit wird er seiner Aufgabe als Journalist nicht gerecht. Er betrachtet nicht differenziert, wie beispielsweise auch Die Presse herausstellt. Er nimmt das laute Schwarz und Weiß der längst nicht mehr nur in sozialen Medien geführten Debatte auf und vergisst die Grautöne. Vielleicht will er sie vergessen. Es tut ja auch gut, sich einmal richtig aufzuregen.

Um es noch einmal klar zu sagen: Ich kritisiere nicht Jens Jessen, den Mann. Ich kritisere Jens Jessen, den Journalisten.

*In Anlehnung an Tommy Sands There were roses:

„An eye for an eye, it was all that filled their minds
And another eye for another eye ‚till everyone is blind.“